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Sylvia Thun

«Wenn man sich auf internationale Standards einigt, geht es rasant»

Ausgabe Nr. 144
Mär. 2025
DigiSanté

Im digitalisierten Gesundheitswesen sind Standards der Schlüssel zum Erfolg. Sylvia Thun, Professorin an der Charité Berlin, erklärt im Interview, welche Standards gelten, wie sie gesetzt werden und warum Deutschland einen grossen Digitalisierungssprung hinter sich hat.

Frau Thun, was versteht man unter Interoperabilität von Daten?

Interoperabilität heisst, dass sowohl Menschen als auch Maschinen die Begriffe richtig interpretieren und weiterleiten können. Es gibt einerseits die technische Interoperabilität: Zum Beispiel das Kabel, das ich benutze, damit ich Strom habe. Andererseits gibt es die syntaktische Interoperabilität, also die Programmiersprache, was der Grammatik entspricht. Und dann gibt es die semantische Interoperabilität. Sie stellt sicher, dass alle die gleiche Sprache sprechen, also unter einem Wort das Gleiche verstehen.

Um interoperabel arbeiten zu können, braucht es Standards. Wer entscheidet, welche Standards gelten?

Nur sogenannte «Standard Development Organisations» dürfen Standards veröffentlichen. HL7 oder ISO sind zum Beispiel solche Organisationen. Sie definieren Standards nach einem festen Vorgehensmodell. Dann folgt das Abstimmungsprozedere in sogenannten «Ballots», wo unter anderem die Industrie einbezogen wird. Im Gesundheitswesen handelt es sich oft um hochwissenschaftliche medizinische Fragestellungen: Welche Sprache benutze ich, um die Morphologie eines Tumors zu beschreiben? Das kann nicht die Industrie oder ein IT-Software-Hersteller definieren, sondern das macht der Pathologe zusammen mit der Onkologin. Deshalb sind auch Ärztinnen und Wissenschaftler in den «Ballots» dabei.

Und wer kann Standards durchsetzen?

Letztendlich sind die Hersteller von Informationssystemen frei, Standards zu nutzen. Aber: Viele Länder haben jetzt zentrale E-Health-Stellen eingesetzt, etwa die Gematik in Deutschland oder E-Health Suisse in der Schweiz. Diese Stellen sind für die Standardsetzung zuständig und definieren Spezialitäten für ihr Land. Im Idealfall orientieren sich die Kompetenzzentren an internationalen Vorgaben. Sonst muss man alles übersetzen nach FHIR, dem Standard, auf dem der European Health Data Space aufgebaut ist.

Das tönt alles ziemlich aufwändig.

Klar, Medizin ist aufwändig, also ist die Abbildung von Medizin auch aufwändig. Und es ist ja bereits eine Herausforderung, simple Dinge wie ein Geburtsdatum, den Familienstand oder Gender zu standardisieren, weil dies politisch in jedem Land anders gesehen wird. Das sind aber die einfachen Beispiele. Viel komplizierter wird es, wenn ich einen Tumor darstellen möchte. Dazu braucht es Wissenschaftler, die das den Fachpersonen aus der IT erklären.

Gibt es weitere Herausforderungen beim Standardisierungsprozess?

Ja, da sind zum Beispiel die Softwarehersteller. Deren Geschäftsmodell ist es, eben nicht interoperabel zu sein, weil sie damit auch austauschbar werden. Und dann ist neben der IT-Standardisierung auch die Prozessstandardisierung wichtig. Die Ausstellung eines E-Rezepts bedeutet zum Beispiel neue Prozesse, die Ärzte davor gar nicht kannten: Sie brauchen kein Telefon mehr, müssen aber eine Karte in ein Gerät einstecken. Für die Prozessstandardisierung nutzen wir die BPMN-Methode, das ist ein ISO-Standard für Prozessmanagement. Ich kann jedem Krankenhaus, jedem Arzt nur raten, die Prozesse mit dieser weltweiten Prozesssprache zu modellieren, die übrigens kostenlos von vielen Softwareherstellern angeboten wird.

Als Vorsitzende des «Interop Council» für Interoperabilität im deutschen Gesundheitswesen begleiten Sie die Standardisierung in Deutschland eng. Was sind die wichtigsten Erfahrungen, die Sie bisher gemacht haben?

Bei uns hat man gesehen, dass sich zum Beispiel Versorgung, Forschung und «Public Health» in den Daten nicht unterscheiden – es gibt keinen «Forschungsblutdruck» und «Public Health-Blutdruck», es ist in den Metadaten immer der gleiche Blutdruck. Und wir müssen nicht alles neu erfinden, es ist schon viel da. Zum Beispiel die ISO-Standards, die auf FHIR basieren – das ist die Basis für alles, was wir machen.

Und: Seit wir in Deutschland im Gesetz festgelegt haben, dass die Systeme nach internationalen Standards interoperabel sein müssen, geht alles viel schneller. Dank der Entscheidung, dass wir den weltweit geltenden FHIR-Standard nutzen, haben wir seit einem Jahr das E-Rezept, das bereits 600 Millionen Mal ausgestellt wurde. Wir haben seit Mitte Januar – mit zwanzig Jahren Verspätung – die elektronische Patientenakte. Vor kurzem wurde die E-Medikation eingeführt. Und bald kommen die Laborwerte dazu – nicht als PDF, sondern als Datenpunkte.

Welche Standards haben sich international bereits durchgesetzt?

Neben den erwähnten HL7 und FHIR gibt es SNOMED. Auch der Standard für Labordaten, LOINC, sowie der Standard für Diagnosen, ICD 10 und 11, sind etabliert. Und dann gibt es noch den Identifikationsstandard GS1. Um den Mehrwert von Standards an einem Beispiel zu illustrieren: Der FHIR-Standard gibt vor, dass das Datum immer gleich eingetragen sein muss: Jahr, Monat, Tag, Zeit – ganz einfach. Da wird nicht mehr diskutiert.

Was kann ein nationales Programm wie DigiSanté dazu beitragen, dass sich diese Standards durchsetzen?

Das Programm kann zum Beispiel Ziele vorgeben. Sie müssen aber konkret sein, damit sie umgesetzt werden können. Wenn ich ehrlich bin, dauert bei DigiSanté die Umsetzung ziemlich lange. Wenn die Schweiz die Standards benutzen würde, die es bereits gibt, wäre man sehr viel schneller. Man leitet die Daten aus den bestehenden Systemen raus, normalisiert sie mit FHIR und würde das dann in Forschungsdatenbanken überführen. Da muss die Schweiz nichts neu erfinden. Wir sehen es am Beispiel Deutschland: Wenn man sich auf internationale Standards einigt, geht es rasant.

Wird sich etwas im Alltag von Gesundheitsfachpersonen ändern, wenn Standards flächendeckend implementiert sind?

Im besten Fall merken sie nichts davon, weil alles im Hintergrund abläuft. Eine Ärztin gibt zum Beispiel einen Text in ihr System ein und in der Software läuft der Standard für den systolischen Blutdruck mit. Es gibt bereits Systeme, die das Gesprochene direkt zusammenfassen und das im Hintergrund mit den Standards versehen, also in FHIR übersetzen. Diese klar definierten Dinge werden dann einer künstlichen Intelligenz zur Verfügung gestellt, die darauf forschen kann. Das werden wir noch erleben. Das ist die Zukunft.

Und die Patientinnen und Patienten, was merken sie davon?

Sie sparen sich mehrere Gänge. Mit dem E-Rezept kann ich mir das Medikament zum Beispiel direkt nach Hause schicken lassen. Es soll alles vereinfachen, aber es bedeutet auch eine Umstellung.

Was ermöglichen flächendeckende Standards sonst noch?

Ganz viel, zum Beispiel Fortschritte im Bereich «Public Health». Dank Standards können Häufigkeiten von Infektionen oder seltene Erkrankungen früher erkannt werden. Wir haben jetzt zum Beispiel Orphanet, die neue Terminologie für seltene Erkrankungen. Diese sind bisher nicht im ICD-Code drin, dem weltweiten System für die Benennung von medizinischen Diagnosen. Wenn sie dort nicht auftauchen, gibt es keine Daten, man kann nicht dazu forschen und die Menschen nicht adäquat behandeln. Oder in der Prävention: In Estland gibt man die genetischen Daten in die elektronische Patientenakte ein. Anhand der Genetik kann man sehen, wie hoch ein Arzneimittel dosiert sein muss. In Zukunft kann man mit Daten «echte» Medizin machen – nicht nur digitalisieren, um zu digitalisieren.

ISO, ICD, HL7 und Co.

ISO: Die «International Organization for Standardization» ist eine unabhängige, weltweit tätige Organisation, die internationale Standards entwickelt und veröffentlicht.

HL7 («Health Level Seven») ist eine gemeinnützige Organisation, die Standards für den Austausch, die Integration und die gemeinsame Nutzung von Gesundheitsdaten entwickelt.

FHIR («Fast Healthcare Interoperability Resources») ist ein von HL7 entwickelter Standard, der den schnellen und einfachen Austausch von Gesundheitsdaten zwischen verschiedenen Systemen ermöglicht.

BPMN («Business Process Model and Notation») ist ein standardisiertes Modellierungsverfahren, das hilft, Geschäftsprozesse darzustellen und zu analysieren.

SNOMED («Systematized Nomenclature of Medicine») ist eine weltweit genutzte, standardisierte medizinische Terminologie, die präzise Begriffe und Codes für die Erfassung, Speicherung und den Austausch von Gesundheitsdaten bereitstellt.

ICD: Die «International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems» ist das von der WHO entwickelte Klassifikationssystem zur Codierung von Krankheiten und Symptomen. Es wird weltweit für medizinische Diagnosen, Statistik und Abrechnung verwendet.

LOINC («Logical Observation Identifiers Names and Codes») ist ein internationaler Standard zur Identifikation und Codierung von Labor- und klinischen Beobachtungsdaten.

GS1 ist eine weltweit tätige Organisation, die Standards für die Identifikation, Erfassung und gemeinsame Nutzung von Daten entlang von Lieferketten entwickelt.

Prof. Dr. med. Sylvia Thun ist Professorin am Berlin Institute of Health (BIH) sowie an der Charité – Universitätsmedizin Berlin und engagiert sich intensiv in der Entwicklung und Implementierung von Standards und Best Practices in der medizinischen Forschung und Versorgungsforschung. Dabei spielt die Optimierung von Forschungsinfrastrukturen und die Integration von Gesundheitsdaten eine zentrale Rolle, insbesondere im Hinblick auf die personalisierte Medizin.

Für ihre herausragenden Beiträge zur wissenschaftlichen und medizinischen Standardisierung wurde sie mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet, eine hohe Würdigung für ihre Verdienste um die Förderung der Wissenschaft und die Verbesserung der medizinischen Versorgung.

Quellen

Foto: Rafalzyk

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